Tausend Gründe
23.07.2005

Das niedrige Haus in der Flussniederung wirkt wie eine Kulisse aus Tolkiens "Herr der Ringe". Aus Feldsteinen erbaut, ruht es inmitten von Bachläufen über dem Wasser. Kleine Brückenverbinden Wiesenstücken, Weidenbäume spiegeln sich im klaren Türkis. Eine Entenfamilie sucht schnatternd das Weite, als wir in die Idylle einbrechen. Abseits der Straße, durch das kühle Dunkel einer Flussmühle, über eine sonnige Aue und eine kniehohe Feldsteinmauer kommen 32 junge Journalisten zu Besuch bei Muhameds Familie.

Muhamed ist 20 Jahre und unser Dolmetscher. Er spricht (nahezu) perfekt deutsch, hat dunkle Haare und ein offenes Lachen und könnte ebenso gut aus Nordrhein-Westfalen oder Brandenburg stammen. Aber Muhamed kommt aus Mostar, er hatte nur Glück: Er und seine Mutter bekamen einen Platz in einem Konvoi. Einem Konvoi von vielen, der Frauen und Kinder aus dem umkämpften Mostar nach Deutschland, Österreich oder Skandinavien brachte. Das war 1992. Damals standen serbische Panzer auf dem kleinen Flughafen in der steinigen Ebene von Mostar. Niemand nahm diese Drohgebärde wirklich ernst, sagt Muhamed: "Wir dachten, es würde einen Ausnahmezustand geben. Viele legten sich Vorräte an, für eine Woche oder zwei. An einen Krieg glaubte keiner.". Nur ein paar Tage später standen die Soldaten vor der Tür, Muhameds Familie musste ihr Haus verlassen. Sie kamen bei Verwandten unter, aus dem Haus nahmen sie nur zwei Plastiktüten mit dem Notwendigsten mit. Als sie am später nach ihrer Habe sehen wollten, war das Haus - wie alle auf ihrer Straßenseite - bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

Das einst zerstörte Haus steht wieder, neu erbaut mit Fördergeldern für Denkmalschutz. Gastfreundlich bittet uns Muhameds Mutter hinein, bietet Erfrischungen für ihre Gäste. Die Gruppe verteilt sich, sucht schattige Plätze am Wasser, lässt die Beine im Fluss baumeln. Eine Kuh grast am Ufer. Zwei Kinder kommen mit einer Katze auf dem Arm über eine der kleinen Brücken. Wir spendieren Bonbons und machen Späße. Das Mädchen spricht akzentfrei Deutsch, sie stellt uns ihren Cousin vor und erzählt von ihrer Katze.

Fließend deutsch spricht Muhamed auch. Er hat die Grundschule besucht in Deutschland. "Die Leute waren perfekt.", erklärt er eher sachlich auf die Frage, wie Deutschland ihn aufnahm. "Ich glaube nicht, dass dieser Krieg hier wegen der Religion geführt wurde.", setzt er fort. "Christen haben uns aus Mostar vertrieben und Christen haben uns so in Deutschland geholfen, waren unsere Nachbarn und Freunde. Es kann nicht um die Religion gehen!" Muhamed zeigt uns die zerstörten Häuser an der Hauptstraße. Gebäude, die eher an Fragmente einer Ausgrabung erinnern als an Häuser aus der Gründerzeit. Das hier sind keine Einschusslöcher, wie wir sie aus Sarajevo oder den kleinen Dörfern unterwegs kennen. Diese Häuser sind ihrer Hülle und ihrer Seele beraubt. Muhamed hat keine Erklärung dafür: "Was soll ich sagen? Soll ich sagen, wo an dieser Straße die Leichen lagen? Man kann das nicht beschreiben." Später wird er uns einen Freund vorstellen, der den Krieg über in Mostar war. "Ich bin nicht normal - und ich konnte nach Deutschland. Was denkst du, wie die sind, die hier geblieben sind?" Muhameds Vater blieb auch. Er kam erst 1996 nach Deutschland, 1997 ging die Familie gemeinsam zurück.

Jetzt kommt Muhameds Vater über die Wiese. Er hat graue Haare und lächelt. Muhamed holt Stühle aus dem Haus. Ja, wir sollen uns setzen. Nein, wir kommen nicht ungelegen, die Eltern freuen sich über den Besuch. Zögernd gehen wir ins Haus, das nur aus einer kleinen Küche und einem geräumigen Zimmer besteht. An der Wand ein Kamin, in den Dielen ein Loch zum Flusslauf. Die Wände sind weiß gestrichen, eine Mikrowelle ruft uns ins Bewusstsein, dass wir uns nicht im osmanischen Reich befinden.

Muslime sind Muhamed und seine Eltern trotzdem. Im sozialistischen Jugoslawien sei Religion unterdrückt wurden, erklärt Muhamed. Sein Vater sei oft 80 Kilometer weit gefahren, um in die Moschee gehen zu können. Auf die Frage, ob die Jugendlichen religiös sein, grinst er: "Sind deutsche Jugendliche religiös?" Er glaube an Gott, aber er habe seine eigene Auffassung von Glauben. Und am Glauben scheitere auch der Frieden nicht. "Denkst du, dass einer das alles zugelassen hätte, wenn er an einen Gott glaubt?", schüttelt er den Kopf. Es ging um Macht und um eigenen Reichtum. Auch in den schlimmsten Kampfzeiten hätten sich die Oberen ihre Pfründe gesichert. "Dieses Land ist so korrupt. Du kannst alles kaufen, wenn du den richtigen Preis zahlst!"

Die Betonplatten für Fußboden und Decke werden für viele rückkehrenden Familien bezahlt. "Einen trockenen Wohnraum und einen Platz zum Kochen, dabei helfen wir.", hatte uns der umgängliche Presseoffizier der EUFOR-Truppen erzählt. Den Rest müssen die Familien allein schaffen: Stein auf Stein. Nicht alle scheinen den Neuanfang in der alten Heimat zu wagen: Auch in Mostar stehen noch viele Einfamilienhäuser mit leeren Fensterhöhlen neben vollkommen intakten Gebäuden. Der Krieg wusste wohl zu unterscheiden zwischen Christen und Moslems, Freund und Feind.

Zu Muhameds Freunde zählen Christen und Moslems. Nicht nur in Mostar, auch in Deutschland und sonst auf der Welt. "Ich bin sehr stolz auf meine Freunde. Mit jedem werde ich ein Stück größer. Es ist wie ein Gewinn." Auch auf seine Stadt ist Muhamed stolz. Er bedauert, uns nicht die alte, schöne Kirche zeigen zu können, die auch zerstört wurde. Stattdessen steht jetzt an dem Platz eine riesige Kirche aus unverputztem Beton. Sie wirkt wie eine trutzige Festung; und das soll sie wohl auch. Der Turm misst 160 Meter. "Das ist kein Turm, sondern ein Symbol!", zeigt Muhamed in die Höhe. Es scheint so, als solle hier Macht demonstriert werden. Muhamed muss ein wenig lächeln, als er erklärt: "Der Untergrund ist sandig, deswegen senkt sich der Turm. Seht ihr, er kippt zur Seite."

Kipplig scheint uns auch der Frieden. So viel Schmerz und Leiden wohnen in diesem Land. Mehr als 3,5 Millionen Menschen mussten beim Zerfall Jugoslawiens flüchten. 242.330 Tote, 175.286 Verwundete, 36.470 Vermisste, 40.000 vergewaltigte Frauen zählt das Statistisches Amt der Föderation von Bosnien-Herzegowina. "Es gibt keine Familie, die kein Opfer zu beklagen hat.", sagt uns Dr. Josip Jurišic, Bürgermeister der Stadt Sarajevo. Und er sagt auch: "Wie fühlst du dich, wenn neben dir der einzieht, der dein Haus niedergebrannt hat?" Wir fragen uns: Können sich diese Menschen verzeihen? Können sie miteinander leben? Kann es Frieden bleiben, auch wenn die EUFOR irgendwann abzieht.

Muhamed weiß auf solche Fragen keine Antwort. Er weiß nur, dass er nicht weglaufen will. Er will bleiben, fertig studieren, danach womöglich Diplomat werden. Skeptisch klingt auch er, als er sagt: "Vor dem Krieg gab es keinen Grund zum Hass, jetzt gibt es tausende."

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