Kein Patentrezept
04.08.2005

Reportagereise nach Sarajevo „Kein Patentrezept“

„Wohin fährst du im Sommer?“, auf die Frage nach den diesjährigen Urlaubsplänen antwortete ich meist gelassen: „Nach Sarajevo.“ Ungläubige Blicke und Erstaunen waren die Reaktion. Nicht nur, dass die meisten meiner Gesprächspartner nicht wussten, dass Sarajevo die Hauptstadt von Bosnien- Herzegowina ist, sie hatten auch keinen blassen Schimmer, wo sich dieses Land im Atlas befindet.
Zugegeben, als ich mich im vergangenen Jahr dafür entschied, diese Reise anzutreten, musste auch ich mich erst geografisch orientieren. Durch Post von dem „Verband junger Medienmacher“, genannt fjp>media, stieß ich auf eine Reportagereise in diese Stadt. Neben Workshops und Seminaren, von denen ich 2004 das Jugendmedientreffen in Halle besuchte, organisierte der Verband die Reise als Höhepunkt seines Programmheftes. Für mich stand vom ersten Augenblick an fest: „Da muss ich dabei sein“. Nachdem ich mir im Klaren war, wie ich den fairen Teilnehmerbeitrag von 200 Euro finanzieren würde, schickte ich meine Anmeldung ab. „Je eher, desto besser“, dachte ich. Schließlich war die Teilnehmerzahl auf 30 Personen begrenzt.
Bosnien- Herzegowina reizte mich schon deshalb, weil ich es mir nicht von Touristen übervölkert vorstellte und es spannend fand, ein Land zu bereisen in dem vor zehn Jahren noch ein heftiger Bürgerkrieg tobte. Wie gehen die Menschen mit ihren Kriegserlebnissen um? Wie leben sie heute? Und welche Probleme existieren dort? Auf viele dieser Fragen erhoffte ich mir eine Antwort.
Die Aufgabe, im Anschluss eine Reportage zu schreiben, betrachtete ich als Herausforderung meine gewonnenen Erkenntnisse und Eindrücke weiterzugeben, denn Reisen bildet ja bekanntlich. Konkrete Erwartungen hatte ich allerdings nicht. Stattdessen wollte ich mich überraschen lassen.
Knapp acht Monate später stehe ich am Magdeburger Busbahnhof, Bussteig sieben. Die Aufregung stellte sich erst am Tag zuvor ein und so geselle ich mich mit leicht flauem Gefühl im Magen zu den anderen Teilnehmern. Die meisten habe ich lediglich zu einem Vorbereitungstreffen vor einigen Monaten kurz zu Gesicht bekommen.
Nach einer schier endlosen Busfahrt mit grimmigen Grenzkontrolleuren erreichen wir die
360 000 Einwohner zählende Hauptstadt. Zuerst erblicke ich Hochhäusersiedlungen. Riesige Blöcke, die sich wie Wolkenkratzer dem Himmel entgegenstrecken und eine gespenstische Silhouette bilden. Einige Zeit später wechseln sich hochmoderne Glasbauten und zerfallene Ruinen ab. Vom ersten Augenblick an bin ich von der Stadt fasziniert.
Ich entdecke zahlreiche Einschusslöcher in Häuserwänden. Sie erinnern an die Zeit des Krieges als Sarajevo 1 400 Tage lang umzingelt und von den Serben beschossen wurde. Es war die angeblich längste Belagerung in der Geschichte. Da die Stadt in einem Tal liegt, hatten die Schützen auf ihren Stützpunkten in den umliegenden Bergen leichtes Spiel.
Von der Busfahrt erschöpft, erreichen wir unser Studentenwohnheim. Die Zwei- und Dreibettzimmer sind einfach eingerichtet, warmes Wasser gibt es nur zu bestimmten Zeiten und die Toiletten entpuppen sich als Stehklosetts. Egal, die meisten hatten es sich weitaus schlimmer vorgestellt. Die Lage des Wohnheimes erweist sich als nahezu ideal, in einer Viertelstunde bergabwärts erreicht man die Innenstadt Sarajevos.
Diese gleicht anfangs einer europäischen Metropole. Ein buntes „Espritschild“ leuchtet mir entgegen. Die Menschen kleiden sich schick, „fast zu schick“, denke ich und frage mich ob es etwas mit dem wieder gewonnenen Lebensgefühl nach dem Krieg zu tun hat. Dann tut sich plötzlich eine neue Welt auf. Das Straßenpflaster wechselt in Kopfsteine, die Nobelläden in Stände, an denen Händler ihre Ware anbieten. Ich befinde mich mitten im muslimischen Viertel. Hier dominieren ältere Gebäude, eine Moschee darf nicht fehlen.
Während einer Stadtführung erfahren wir noch einiges mehr über Sarajevo, das seit 1992 Hauptstadt Bosnien.- Herzegowinas ist und von bosnischen Muslimen (Bosniaken), Serben und Kroaten bewohnt wird. So war auch der Krieg letztlich eine Folge des Aufeinandertreffens der drei ethnischen Gruppen in diesem Land. Nach dem Zerfall Jugoslawiens erreichten Kroatien und Slowenien die Unabhängigkeit. Auch die Bosniaken wollten ein eigenes Staatsgebiet, das jedoch den Interessen der Serben, die ein großserbisches Reich forderten, konträr gegenüber stand. Der Konflikt um die territorialen Grenzen endete 1992 mit dem Ausbruch des Krieges. Erst durch das späte Eingreifen der UN und der EU wurde 1995 im so genannten „Dayton Abkommen“ der Frieden mehr oder weniger forciert. Seither versuchen Hilfsorganisationen, wie die Eufortruppen oder die OSZE (Organization for Security and Co-operation in Europe) das Land schrittweise zu stabilisieren.
„Bedeutet das, der Krieg würde ohne diese Organisationen jederzeit erneut ausbrechen?“, diese Frage stelle ich mir nach einiger Zeit. Hier spalten sich die Meinungen. „Dieser Krieg ist ausgeblutet“, davon ist der deutsche Botschafter fest überzeugt. Während unseres Besuches in der deutschen Botschaft, die aufgrund der hohen Sicherheitsvorkehrungen ein wenig an eine mittelalterliche Festung erinnert, spricht er von dem „eigenartigen Fall Bosnien- Herzegowina“. „Mörder und Opfer wohnen direkt nebeneinander“, beteuert der 40- Jährige, der nicht gerne zitiert wird. Trotzdem stellt dieser Fakt für ihn keinen ausreichenden Grund für einen erneuten Kriegsausbruch dar.
Anders wird diese Frage in der Bevölkerung beurteilt. Auf einem Tagesausflug in die Stadt Mostar mache ich die Bekanntschaft mit einer bosnischen Muslimin. Fikreta ist sehr aufschlossen und spricht mit mir sofort über persönliche Angelegenheiten.
Geboren wurde sie in dem kleinen Dorf Tusla, das ca.100 km von Sarajevo entfernt liegt und in dem noch heute ihre Familie wohnt. Obwohl Tusla nicht bombardiert wurde, ging der Krieg an der 18- Jährigen nicht spurlos vorüber. „Mein Freund hasst alle Serben. Er hat im Krieg gekämpft“, während sie mir das anvertraut, wandern ihre Augen unruhig umher. Auch Fikretas Vater war Soldat. „Jetzt ist er psychisch geschädigt“, fügt sie hinzu. Eine eindeutige Handbewegung untermauert ihre Aussage. Sei es die Familie, die mit knapp 250 Euro im Monat auskommen muss, der kranke Vater oder ihr Verhältnis zu ihrem Land, was die Abiturientin erzählt, trifft mitten ins Herz. „Ich mag mein Land nicht, weil die Menschen sich gegenseitig misstrauen“, aus ihrer Stimme spricht Ehrlichkeit. Sie ist davon überzeugt, dass die Kämpfe wieder beginnen würden, sollte das ausländische Militär abziehen.
Deshalb plant die junge Frau ihre Zukunft im Ausland. Studieren möchte sie in Österreich, und zwar Journalismus. „Es ist das, was mich interessiert“, Fikreta weiß, was sie will und arbeitet aus diesem Grund schon jetzt bei zwei Radiosendern. Auch Deutschland möchte sie einmal besuchen um ihr Schuldeutsch aufzubessern und das Land kennen zu lernen.
Für viele Bosnier ist unser Heimatland nicht bloß ein grauer Fleck auf der Landkarte, denn während des Krieges nahm die Bundesrepublik Hunderttausende Flüchtlinge auf. Während der Reise lerne ich einige von ihnen kennen. Da ist der nette Händler im muslimischen Viertel, der einige Jahre in Deutschland verbracht hat und mir aus Dankbarkeit ein Kaffeeset zum halben Preis verkauft oder der freundliche Kellner aus einem Fast Food Laden, der besser Deutsch als Englisch spricht. Und nicht zuletzt auch unser Dolmetscher Mohammed, ebenfalls ein Kriegsflüchtling. Heute studiert er dank eines Stipendiums in Sarajevo. Durch ihn erfährt unsere Gruppe viel über Bosnien- Herzegowina.
Das Schulsystem wird offiziell als reformbedürftig eingestuft. „Es gibt immer noch getrennte Geschichtsbücher“, weiß Mohammed. Ich bin schockiert. Wie soll die nächste Generation Toleranz lernen, wenn im Unterricht die andere Ethnie als feindlich eingestuft wird? Er berichtet weiterhin, dass Serben, Kroaten und Bosnier derzeit versuchen ihre Sprachen, die alle drei miteinander verwandt sind und deshalb ähnlich klingen, durch neue Wörter von der anderen Sprache zu entfernen. Es scheint, dass man auseinander treibt, statt aufeinander zuzusteuern.
Politisch ist man bemüht dieser Tendenz entgegenzuwirken. Sarajevo wird erstmalig von einer muslimischen Bürgermeisterin regiert. Wir haben die Ehre sie kennen zu lernen, ebenso die beiden „Unterbürgermeister“. Wie es sich gehört, repräsentiert einer die Serben, der andere die Kroaten. Sie scherzen miteinander, verstehen sich gut. Keine Spur von Rivalität in den höheren Kreisen? Ich bin skeptisch, doch die drei liefern eine astreine Show. Probleme innerhalb der Bevölkerung? „Gibt es kaum. Alle Konflikte werden durch die politischen Parteien ausgetragen“, bekommen wir als Antwort. Erhöhte Kriminalität? Die Quote sei nicht höher als in anderen Ländern. Die Armut in der Bevölkerung? Läge im normalen Bereich.
Als offizielle Vertretung der Stadt muss die Bürgermeisterin positiv in die Zukunft blicken. Für sie sind Sarajevo auf dem Weg zur europäischen Metropole keine Steine in den Weg gelegt. Schade nur, dass ihr das von uns niemand abnimmt.
Die harten Fakten belegen eine andere Wahrheit. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 350 Euro im Monat. Das ist selbst für die Verhältnisse in Bosnien- Herzegowina wenig. Die Arbeitslosigkeit beträgt 40 %. Ein soziales Netzt existiert nicht. Folglich boomt der Schwarzmarkt. Von irgendetwas müssen die Menschen schließlich leben.
Ein beliebter Nebenjob ist der des Minensuchers, zu dem sich viele Einheimische aufgrund der guten Bezahlung hinreißen lassen. Nur mit einem behelfsmäßigen Schutzanzug ausgerüstet, durchstochern die Menschen mit einem Holzstock die Erde. Der Gefahr zumindest einen Fuß zu verlieren, ist sich jeder bewusst. Tatsächlich sind in Bosnien- Herzegowina noch 80 % der Landfläche vermint. Die Regierung kommt mit dem Unschädlichmachen nicht hinterher, denn die Räumung einer einzigen Mine kostet 1000 Euro. Man schätzt ihre Anzahl auf 540 000 Stück. Hochmoderne Technologie ist häufig nutzlos. „Aufgrund dessen, das die meisten Minen aus Plastik sind, können keine Metalldetektoren verwendet werden“, erklärt der Pressesprecher der Eufortruppen, die wir an einem anderen Tag aufsuchen. Die deutschen Kontingente beteiligen sich jedoch nicht an der Minensuche, wie es beispielsweise die Italiener tun.
„Es ist es eine schweinemäßige und gefährliche Arbeit“, meint der Pressesprecher während seines Vortrages. Doch die Minen sind nicht das Hauptproblem von Bosnien- Herzegowina. Reformen werden dringend benötigt. „Das Ziel der Eufortruppen ist es das Land schrittweise zu stabilisieren“, unser Referent ist von seiner Mission überzeugt. „Wir wollen Bosnien- Herzegowina in Europa integrieren“. Konkreteres verrät er nicht, propagiert jedoch die Aufnahme des Landes in die EU. „Was ist die Alternative?“, fragt er in die Runde. Wird nachgehakt, wirkt der Mann in Uniform oft ratlos. Mit leiser Stimme gibt er zu, „dass es für die Probleme des Landes kein Patentrezept gibt.“ Die Hauptaufgabe der Truppen ist es deshalb „präsent“ sein, d.h. den Bürgern eine gewisse Sicherheit zu garantieren.
„Ob der Kontakt zur Bevölkerung tatsächlich so ausgeprägt ist?“, bei mir kommen Zweifel auf. Während einer Führung durch das oberhalb von Sarajevo gelegene riesige Lager, befällt mich der Eindruck einer „Stadt in der Stadt“, denn die Truppen leben im Lager abgeschottet vom Rest der Welt. Es ist eine Art Miniuniversum mit Sauna, Volleyballfeld und einer erstklassigen Kantine. Es gibt gefüllte Paprika, typisch deutsch. Ich komme mir fast wie zu Hause vor, denn die Toiletten besitzen eine Kloschüssel, selbst der Seifenspender funktioniert. Deutsche Gründlichkeit, wohin ich blicke. „Welch Kontrast zum Leben in der Stadt“, denke ich und fühle mich auf einmal unwohl. Ich bin froh, als wir das Lager wieder verlassen.
Am Abend laufen einige von uns hinauf zu einem Aussichtspunkt, von dem aus man ganz Sarajevo überblickt. Die Stadt wird von einem Lichtermeer erhellt, ein unvergleichlich kitschiger Anblick, und trotzdem wunderschön. Plötzlich beginnt ein Muezzin mit monoton leiernder Stimme zum Gebet aufzurufen. Dieser eigenartig schwermütige Gesang wird mir für immer in Erinnerung bleiben und er ist fortan das erste, was ich mit Sarajevo verbinde.
Auf der Rückfahrt im Bus denke ich über das Erlebte nach und überlege, was ich sage, wenn mich jemand fragt, wie es war. Mir wird klar, dass kein einzelnes Adjektiv diese Reise vollständig beschreibt und deshalb antworte ich dann immer zuerst mit „Tja“. Ungläubige Blicke und Erstaunen sind die Reaktion.

 
Gina Apitz
Gina
Apitz
 

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