Traum von Perfektion
28.07.2005

Er dreht sich noch einmal um. Er lächelt kurz, bevor er die Augen schließt. Unter ihm strömt das metallblaue Wasser des Neretva. Ohne zu zögern breitet er die Arme aus und stürzt sich in die Schlucht. Sekundenlang herrscht fast vollkommene Stille, nur das Klicken der Fotoapparate stört den erhabenen Sprung.
Erst als ein kleiner Kopf zwischen den Stromschnellen auftaucht und sich in wenigen, kraftvollen Zügen in Richtung Ufer bewegt, brechen die dutzenden Zuschauer 30 Meter höher in lautes Gejohle und Geklatsche aus. Kinder jubeln, Männer filmen, Frauen lachen. Sie stehen mitten in einer Märchenkulisse aus 1001 Nacht: schneeweiße Häuser reihen sich entlang eines klaren, schnellen Flusses. Beide Ufer werden durch eine steinerne Bogenbrücke verbunden. Hunderte Menschen spazieren täglich über die weißen, glänzenden Straßen, trinken ein kühles Bier oder bummeln über den Basar. Strahlend-blauer Himmel und die begrünten Arkaden vervollkommenen den perfekten Traum vom Orient.
Es wird Englisch gepsprochen. Und Deutsch. Und Holländisch. Und Italienisch. Mostar ist ein Tummelplatz für westliche Touristen, die sich während ihres Badeurlaubes an der kroatischen Adria mal kurz ins benachbarte Bosnien verirrt haben.
Doch die Perfektion ist trügerisch: Diese historische Stadt ist nur eine Kopie. Eine Kopie ihrer selbst. Vor nur zwölf Jahren war Mostar Schauplatz eines brutalen Krieges. Bosniaken und Kroaten legten ihre gemeinsame Heimatstadt in Schutt und Asche. Im November 1993 fiel auch die "Alte Brücke" dem Krieg zum Opfer. Ihre Zerstörung galt damals als Symbol für den Zusammenbruches Jugoslawiens, ihr Wiederaufbau sollte den neuen Frieden auf dem Balkan zeigen.
Doch dieser Frieden wird der monumentalen Steinbrücke nicht gerecht. Der Frieden erscheint wackelig und rissig. Internationale Armeetruppen schützen die Ruhe in Bosnien und Herzegowina. Das Land wird von der organisierten Kriminalität unterwandert. Die Narben des Balkankrieges sitzen tief. Kroaten und Bosniaken bilden noch längst keinen gemeinsamen Staat. An den Häusern der kroatischen Gebiete weht die kroatische Flagge, an den bosniaischen Häusern die bosnische Flagge. Nationalstolz sagen die einen, pure Provokation sagen die anderen.
Noch heute sind ganze Straßenzüge in Mostar nicht wieder aufgebaut worden. Völlig zerstörte Häuser markieren den Frontverlauf von einst. In vielen Ruinen wachsen mittlerweile Bäume. Auch die bewohnten Häuser sind oftmals von Einschusslöchern durchsetzt. Baustellen prägen das Bild der Vororte. Ausgebrannte Karosserien säumen die Straßen vor der Stadt. Der Krieg kämpft gegen das Vergessen. Er legt seinen Schatten über die Stadt. Nur die Touristen erreicht er nicht. Sie bekommen diese Stadtteile nie zu Gesicht, schwelgen weiter in ihren orientalischen Tagträumen und genießen den kühlen Schatten der weißen Häuserwände.

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