Welcome To Sarajevo.
Wie begegnet man einer Stadt, die 1984 das Symbol winterlicher Sportwettkämpfe war und nur acht Jahre zum Massengrab mutierte? Wie nähert man sich einem Land in Europa,
das am Ende des 20.Jahrhunderts zerbombt und vergewaltigt wurde? Wie tritt man den Menschen gegenüber, die beschossen und vertrieben wurden? Wie wird man dort erwartet, wo es vor dem Krieg „keinen Grund gab, aber jetzt tausend“ um wieder zu schießen?
Das aktuelle Bild des Balkans ist geprägt von einem Krieg, der vor zehn Jahren zu Ende ging. Ein Brudermorden, das für viele nur ein Gemetzel und blutiges Schlachten war. Selbst der Begriff „ethnische Säuberung“ hört sich noch im Nachklang klinisch rein an. Die notwendige journalistische Objektivität ist da nur schwer zu wahren; aber oberstes Prinzip.
Doch Vorurteile? Nein, Vorurteile hatten mich nicht nach Sarajevo geführt. Eher war es die Neugier auf das Land. Vielleicht auch der Versuch, etwas von den Gründen zu verstehen, die zum Ausbruch der Bestie Mensch führte und wie sich der Balkan nach dem Krieg entwickelt hat. Ich sah unsere Reportagereise als eine Chance, hinter die Kulissen zu sehen. Lokalpolitiker und EUFOR-Soldaten, junge Menschen, Einwohner und Mitarbeiter der OSZE kennen zulernen. Die verschiedenen Facetten eines Landes im Eilzugtempo zu erhaschen.
Ich glaube, auch den anderen ging es so. Vielleicht war die Motivation manchmal eine andere. Das Interesse für die Belagerung Sarajevos stand jedoch, im Gegensatz zu anderen Studienreisen, an erster Stelle. Nun, vor dem Hintergrund der langen Belagerungszeit der Stadt konnte ich mich vor der Abreise einer gewissen Beklemmung auch nicht erwehren. Vielleicht war es doch eine gewisse Art von Vorurteil dem Brennpunkt Balkan gegenüber.
Wir brauchten etwa 23 Stunden von Magdeburg nach Sarajevo. Das gemeinsame Interesse an dieser außergewöhnlichen Reise, nette Gespräche und die vielen Versuche, ein wenig Schlaf auf den Sitzen zu finden, begleiteten die 1.383 km. Was danach folgte, waren ein gut geschnürtes Paket an Terminen, neuen Bekanntschaften und zahlreiche Überraschungen, welche die Stadt selbst für uns bereithielt. In der Zwischenzeit ist einiges über den Besuch bei den EUFOR-Truppen, der deutschen Botschaft oder Mostars geschrieben worden.
Positive Gesten, Erklärungsnot oder Ratlosigkeit kamen meistens von offizieller Seite. Dem gegenüber stand das Vertrauen, das dem Land und seiner Jugend genommen wurde. Zorn und Trauer sind meist die Antwort der jungen Menschen auf die blutigen Jahre auf dem Balkan.
Während es nach Kroatien von Jahr zu Jahr immer mehr Touristen zieht, hat sich besonders Bosnien-Herzegowina um Jahrzehnte auf die Stunde Null zurückgemordet. Der Erholungsprozess geht voran, solange nur der materielle und bauliche Zustand betrachtet wird. Von der Europäischen Union wird das Land beim Wiederaufbau unterstützt, auch wenn es immer zu wenig ist, wie wir von der Stadtoberen von Sarajevo hören. Die internationale Gemeinschaft versucht nun, ein wenig den Schaden zu begrenzen und die Scharte auszubessern, die geschlagen wurde. Doch wie will sie das an den gebrochenen Seelen der Menschen gut machen, was sie hätte nie zulassen dürfen.
Der Journalist David Rieff beschrieb in seinem Buch „Schlachthaus“ Bosnien und das Versagen des Westens. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1995 in Dayton, wurde es in den Medien ruhiger um das Land. So dominiert allein das Entsetzen über das, was vor zehn Jahren in den Ländern passierte, die nun von Minen verseucht sind und die Angst vor dem Patienten Balkan.
Doch das Leben geht weiter. Muss es einfach in Bosnien-Herzegowina und Sarajevo. Trotz 40prozentiger Arbeitslosigkeit, Armut und hoher Kriminalität, die sich besonders in den Belagerungsjahren etablieren konnte.
Ein Abend wird mir von all den anderen in besonderer Erinnerung bleiben. Wir waren bereits früh aufgestanden, hatten uns mit der Gruppe um Fikreta, Suzanna und Maria den Hochbunker des Staatsfernsehens besichtigt und waren noch ein wenig auf Sightseeing durch Sarajevos Altstadt.
Der Vollständigkeit halber muss ich erwähnen, dass die drei Frauen aus den verschiedenen Teilen des alten Jugoslawiens kamen. Sie gehörten einer Gruppe junger Nachwuchsjournalisten an, die sich in Sarajevo zu einem Seminar getroffen hatten. Ein Glücksfall für uns. So unterschiedlich die einzelnen Männer und Frauen waren, so neugierig waren sie auch auf uns Deutsche. Auf unsere Arbeit als junge Journalisten, Reporter und Berichterstatter waren sie ebenso gespannt wie wir auf ihr Leben auf dem Balkan.
Ein weiterer Glücksfall waren für uns die „Bascarsijske noci“ von Sarajevo. Das jährlich stattfindende Kulturereignis fand gegenüber der alten Nationalbibliothek, auf der anderen Uferseite der Miljaka, statt. Fikreta hatte mich überredet, mitzukommen. Die junge Bosniakin aus Tusla, die den Krieg schon bewusst miterlebte, kümmert sich freiwillig um Waisenkinder und Kriegsgeschädigte. „Ich will es einfach, weil ich es für wichtig halte“, beteuerte mir die 18jährige. Trotzdem sieht sie ihre Zukunft nicht auf dem Balkan.
Nun, diesen Abend gingen wir aufs Konzert. Zusammen mit Daza und einem jungen Kroaten, dessen Name mir leider entfallen ist. Ich möchte ihn hier einfach Milan nennen. Auf dem Weg erklärte mir Milan, um welcher Sänger es sich handelte.
Mir war Dorde Balasevic bisher unbekannt gewesen. Der Jugoslawe – vor dem Krieg bezeichneten sich Serben, Kroaten, und alle andere Jugoslawen nur als solche – war schon in den 80er Jahren der Nationalbarde der Volksrepublik Jugoslawien. In den 90er Jahren, nach Ausbruch des Krieges floh Balasevic nach Slowenien, wo er sich für den Frieden in seiner Heimat sang. Für viele war er ein Verräter. Für die Menschen auf dem Platz war er ein Idol.
Der Andrang war enorm. Je näher wir uns zur Bühne vorkämpften, umso enger standen die Menschen. Ich fühlte mich wie auf einem deutschen Rockkonzert. Der Unterschied war nur, dass hier das Fanalter zwischen fünf und 75 Jahren lag. Mit etwas Verspätung, so wie es sich für einen Künstler gehört, kam Dorde Balasevic auf die Bühne. Es musste von ihm irgendetwas Magisches ausgehen, da die Menschenmenge zu jubeln begann. Daza und Milan, die den Sänger nur von den Schallplatten und CD’s ihrer Eltern kannten, konnten sich vor Begeisterung kaum zusammenreißen.
Dorde Balasevic sang von der Heimat, von Liebe und Krieg, Hass und Vergebung. Wie es sich für einen Nationalbarden gehört. Ich konnte kein Wort verstehen. Doch die elektrisierende Stimmung unter den Menschen, die hier von den Alltagssorgen eine kurze Pause nahmen, riss mich einfach mit.
Ich selbst fand unter den Anwesenden keine potentiellen Attentäter oder Bombenleger. Sicher, ein mulmiges Gefühl stellte sich manchmal schon ein, als mir die Worte eines Politikers hier in Sarajevo durch den Kopf gingen: „Die Menschen untereinander sind misstrauisch geworden. Woher wollen Sie wissen, ob Ihr Nachbar nicht auch zu denen gehört hat, die oben auf den Hügeln standen und geschossen haben?“
Ich hob meinen Kopf in den Nacken. Über uns erhellte ein klarer Vollmond die Hügel oberhalb Sarajevos. Dort oben standen die Geschütze und nahmen vier lange Jahre die Stadt unter Beschuss. Für einen Moment schloss ich die Augen. Dorde Balasevic sang gerade wieder eines seiner melodischen, tragenden Lieder. Eines mit diesen traurigen und melancholischen Texten, für die das slawische Liedgut so bekannt ist. Ein leichter Schauer fuhr mir den Rücken hinunter, als mir die Fernsehbilder der Belagerung durch den Kopf schossen. Nur einige Meter hinter mir lag die Nationalbibliothek, die 1992 nach starkem Beschuss ausbrannte. Dort begann auch die Straße entlang der Miljaka, die als „Sniperallee“ einen blutigen Beinamen erhielt. Nur schemenhaft konnte ich mich an die Fernsehbilder erinnern. Zu weit weg lag Jugoslawien, das ich vor dem Krieg nie betreten hatte.
Als ich meine Augen wieder öffnete, unterhielt sich Fiekreta gerade mit einer jungen Gruppe Männern. Daza und Milan hingegen hatten sich in Ekstase gesungen. Lange noch sang Balasevic seine Lieder und spöttelte über Politik und Sture Köpfe. Ich verließ das Konzert schon etwas früher.
Der Vollmond ließ jede dunkle Gasse heller scheinen, die kräftige Stimme von Dorde Balasevic begleitete mich lange durch die Sarajevo. Ein wenig Hoffnung schwang in ihr für mich mit und mir schienen die Stadt und das tief vom Krieg vernarbte Land nicht mehr so düster wie zuvor.
Das Leben geht weiter nach dem Krieg. Doch wie tief stecken Hass, Angst und Hoffnungslosigkeit in den Menschen des Balkans? Muss die Zukunft positiv gesprochen werden? Wie groß sind die Chancen, dass sich der Balkan mit seinem Brudermord selbst am tiefsten auseinander zu setzen vermag? Erst dann mag sich die Zukunft etwas sicherer entwickeln, als es derzeit von den offiziellen Seiten verkündet wird.
„Auch der tut Unrecht, der nichts tut. Wer das Unrecht nicht verbietet, wenn er kann, befiehlt es!“ sagte einmal Marc Aurel. Wo waren nun die Gründe, die zum Morden führten? „Wir selber wollten es nicht wahr haben. Keiner konnte sich vorstellen, dass bei uns Krieg sein würde.“, klingen mir Muhameds Worte nach.
Welcome To Sarajevo. Welcome To Europe.