Ich kann mir nicht vorstellen, so viel Schmerz zu erfahren, wie diese Menschen es mussten, müssen und wohl bis zu ihrem Tod (und durch ihre Kinder darüber hinaus) tun werden. Man kann von keinem der Mitreisenden verlangen, sich in das Schicksal dieser Stadt, dieser Region, dieses Staats hineinzuversetzen, wenn unser Verstand schon an der nackten Zahl Ermordeter, Verwundeter, Vergewaltigter, Verwaister und Vertriebener scheitert.
Wie gebannt stand ich heute vor dem Foto einer alten weinenden Frau, die Leichen aus einem Massengrab identifizierte. Ich habe schon viele solcher Bilder gesehen, aber selbst am Ort dieser Ereignisse zu stehen und vor Augen zu haben, was im Grunde genommen jeder einzelne Bewohner dieser Stadt fühlt, aber nach außen hin nicht oder nur selten zur Debatte stellt, hat mich hart an meine Grenzen gebracht.
Ich habe mich selbst an einem Massengrab stehen sehen. Jeder neue Körper ein Familienmitglied.
Was würde ich sagen, wie sollte ich dem begegnen?
Kann man den Schmerz dieses Verlusts teilen? Kann man irgendwann den schier unüberwindlichen Schritt machen und denen verzeihen, die verantwortlich sind?
Ich weiß nicht, ob ich es könnte. So, wie diese Menschen es hier tun, müsste ich irgendwie weiter machen, aber wie?
Ich habe großen Respekt vor den Menschen hier. Vielleicht ist es Einbildung aber ich habe den Eindruck, dass sie hungrig nach Leben sind, sei es nun der Polizist, der während seiner 24-Stunden-Wache vor der französischen Residenz lernt, um einen höheren Schulabschluss nachzuholen; sei es der Taxifahrer, der uns immer wieder unermüdlich versichert „Bosnia and Germany – that is great!“; sei es der Fußballtrainer, der seine kleinen Zukunftstalente in der größten Mittagshitze vorantreibt; sei es das laute Dröhnen der Bässe aus einem der aufgemotzten Karossen auf der Straße.
Welche andere Möglichkeit hat man auch, als sich gegen die erdrückende Last der erst zehn Jahre alten Vergangenheit zu wehren und nach vorn zu sehen?