Der Bus kriecht schleppend durch den Stau, der sich bis in die Außenviertel Sarajevos zieht. Viele unserer Blicke werden von Häusern aufgefangen, die eher Baustellen als Wohnorten gleichen.
Unverputzt, teils ohne Fenster in den oberen Etagen, verraten nur vollbehängte Wäscheleinen und gelegentliche Blumentöpfe, dass die Häuser bewohnt sind. Doch auf den Grundstücken gelagerte Schubkarren, Betonmischer und Holzvorräte deuten an, dass das jetzige Aussehen nur ein Zwischenstadium ist. Mittlerweile bleibt im Bus, durch die zahlreichen Wendemanöver, nicht unbemerkt, dass die Busfahrer einige Schwierigkeiten haben unser heutiges Ziel, hier am Stadtrand von Sarajevo zu finden. So erleben wir den einen oder anderen außerplanmäßigen Halt, in denen unser Dolmetscher aus den Bus steigt, um die vorbeilaufenden Leute nach der Richtung zu fragen, damit wir den Weg endlich finden.
Sarajevo 1992. Auch die bosnische Bevölkerung musste einen Weg finden. Serbische Truppen haben Stellung auf den Hügeln bezogen und die Stadt eingekesselt. Sie wüten mit willkürlichen Artilleriebeschuss, dessen Granaten überall einschlagen können. In Schulen, Bürogebäuden oder auf den Straßenkreuzungen. Nichts ist sicher. Den Bürgern fehlt und mangelt es an Allem: Wasser, Nahrung, Medikamente, Elektrizität, Treibstoff. Doch es gibt keine Möglichkeit den Ring der Serben zu durchbrechen. Im Juli 1992 gibt es einen kleinen Lichtblick. Die VN setzen durch, dass sie die Kontrolle über den Flugplatz erhalten. So können sie die Stadt per Luftbrücke mit Nahrungsmitteln versorgen. Der Flugplatz ist ein strategisch wichtiger Punkt, denn er befindet sich zwischen der Stadt und dem, von Serben unbesetzten, freien bosnischen Gebiet. Doch die Serben wissen um die Wichtigkeit des Flughafens und erlauben nur den Vereinten Nationen ihn zu benutzen. Diejenigen die über den Flugplatz rennen, um Nahrung oder Munition zu transportieren, werden entweder von den VN-Truppen zurückgeschickt oder von den Scharfschützen der Serben erschossen. Nur wenige schaffen es den Flugplatz zu überqueren. Viele lassen ihr Leben bei dem Versuch.
So entsteht ein Plan. Wenn es fast unmöglich ist über den Platz zu laufen, warum nicht unter ihm hindurch. Ein Tunnel muss her. Am 12.1.1993 wird das Projekt D-B Communication von der oberen bosnischen Militärführung begonnen. Von Dobrinja bis nach Butmir soll ein Tunnel gebaut werden, der unter der Landebahn des Flughafens entlangführt. Dabei helfen Pioniereinheiten, Zivilbevölkerung und Minenarbeiter, welche 24 Stunden am Tag in 3 Schichten daran arbeiten das Vorhaben zu verwirklichen. Sie werden 2800 Kubikmeter Erde mit kleinen Schubkarren aus den Stollen fahren, 170 Kubikmeter Holz und 45 Tonnen Wellblech für die Verstärkung der Tunnelwände verbrauchen, dabei immer wieder mit Kanistern und Eimer das eintretenden Grundwasser abschöpfen. Nach monatelanger Schwerstarbeit ist der Tunnel fertig. Er ist 800 Meter lang, 1 Meter breit und durchschnittlich 1,50 Meter hoch. Er ist überaus wichtig für die Zivilbevölkerung, und für die bosnischen Truppen. Durch ihn werden Nahrung, Öl, Medikamente aber auch Waffen, Munition transportiert. Ebenso dient er zur Bewegung von Einheiten und der Übertragung von militärischen Nachrichten. Mit der Zeit wird durch den Tunnel eine Pipeline, für die Treibstoffversorgung, eine Telefonleitung und eine Starkstromkabel verlegt. Auch gibt es eine Schienenverbindung auf der kleine Karren den Transport der Güter vereinfachen (jeder Karren trägt 200-300 Kilogramm). Etwa 4000 Menschen benutzen den Tunnel täglich. Er ist für sie und die Anderen unersetzbar in diesem Krieg geworden.
Der Bus hält. Es heißt, wir sind auf unserer Suche nach dem Tunnelmuseum fündig geworden.. Nach einem Spaziergang von 500 Metern über ein Feld, direkt neben der Ladebahn des Flughafens, sind wir da. Ein Haus wie viele andere, durch Einschlusslöcher kriegsgezeichnet, aber der armeegrüne Vorbau weckt schnell Neugierde. Nach mehrmaligem Klingeln öffnet ein junger Mann, der in seinem karierten Hemd und seiner Sonnenbrille nicht dem Prototyp eines Museumsführers entspricht. Wir gehen hinein in den Vorbau und werden von Tarnnetzen, alten Munitionskisten und Schautafeln empfangen. Unübersehbar ist auch der Eingang in die Erde. Hier bekommt man auf 25 Metern einen Eindruck, wie eng und niedrig der Tunnel damals auf fast einem ganzen Kilometer war. Wir hören die Geschichte des Baus, sehen Fotos von dem zerstörten Sarajevo und lesen die Namen auf den endlos erscheinenden Listen der Gefallenen. Und dann schauen wir das Video. Es zeigt eigentlich die Geschichte des Tunnelbaus. Doch vorher sehen wir Videosequenzen vom Beschuss der Stadt. Granaten schlagen in Häuser. Wohnungen brennen. Menschen laufen geduckt um ihr Leben. Sie laufen um ihr Leben in der selben Stadt, durch deren enge schöne Gassen wir gelaufen sind. In der wir in Restaurants und Bars unser Mittag gegessen, unseren Kaffee getrunken haben. In der Stadt, die so ein großes, reiches, kulturelles Erbe hat. Sie laufen um ihr Leben.
Wie es der Zufall will, gehe ich alleine den Weg zurück zum Bus. Allein mit meinen Gedanken. Die Bilder aus dem Video sind immer noch da. Zum ersten Mal kommen mir Zweifel. Zweifel an dem Sinn unserer Reise. Es ist so leicht hierher zukommen, den Krieg zu verurteilen, große Reden zu schwingen wie schlecht Krieg ist und den moralischen Zeigefinger zu heben. Aber wissen wir überhaupt was Krieg ist? Wissen wir was wir getan hätten? Wir kommen aus Deutschland. Die letzten Jahrzehnte waren friedlich dort. Wir selber waren nie mit Hass und Tod in der Form konfrontiert. Was hätten wir getan? Was hätte ich getan, wenn mein Jungendfreund von einer Granate zerissen wurden wäre? Wenn die Frau dich ich liebe durch das kalte Auge einen Scharfschützen ihr Leben verloren hätte? Wer sagt, dass mich dann nicht die heiße Hand der Rachlust an das Gewehr geführt hätte? Um selbst Verderben zu säen und um jenen das anzutun, was sie mir angetan haben. Krieg. Ich weiß überhaupt nicht, was dieses Wort bedeutet. Und nun komme ich aus meiner heilen Welt, um Bericht zu erstatten. Ist es nicht anmaßend zu berichten, wenn meine nicht die leiseste Ahnung hat, was die Menschen erlebt haben. Was sie dabei gefühlt haben. Wie sie es erlebt haben. Am Bus angekommen beschäftigen die Fragen und Zweifel noch immer. Was heißt es in einem Krieg zu leben? Wäre auch ich zu einem Mörder geworden? Neben dem Bus sitzt Marcus und raucht. Er hat eine Zigarette und einen Gedanken für mich: „Dieser Tunnel ist eine Form von passiven Widerstand“. Er hat recht. Ich kann den Feind auch mit der Schaufel bekämpfen, dafür sorgen, dass der Zivilbevölkerung geholfen wird, Lasten schleppen, Steine wegräumen. Doch Bedarf es meiner Meinung nach großer menschlicher Stärke, um sich gegen blutige Vergeltung zu entscheiden und mit der Kraft seiner Hände zu helfen. Denn zu leicht entflammbar ist der Hass in uns, in uns allen Menschen. Als der Bus auf der holprigen Straße der Stadt entgegen ruckelt, zweifle ich immer noch. Was hätte ich getan? Aber ich zweifle nicht mehr am Sinn dieser Reise. Hier kann ich mein Selbst erweitern, über mich lernen, mich austauschen, die Gedanken von meinen Mitreisenden durchdenken. Sie diskutieren, verwerfen oder annehmen. Und ich kann schreiben, berichten über das was ich gedacht und gefühlt habe. Auch auf der Fahrt zurück ist wieder Stau. Ich nicke langsam ein. Und träume, dass vielleicht eines Tages die Einwohner dieser Stadt auch einen Weg finden. Einen Weg friedlich, ohne Hass miteinander zu leben.